Mises und die Psychiatrie

Thomas S. Szasz

Als eine der Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts beherrschte Ludwig von Mises viele Themengebiete. Psychiatrie gehörte nicht dazu.

Wir leben in einem Zeitalter der Spezialisierung und erwarten deshalb von Spezialisten einerseits ein hohes Maß an Wissen über ihre eigenen Fachgebiete und gleichzeitig, dass sie bei fachfremden Themen auf die Arbeit anderer anerkannter Experten zurückgreifen. Ich glaube jedoch, dass wir von Sozialwissenschaftlern mehr erwarten sollten, besonders dann, wenn deren Interessen auch Probleme individueller Freiheit und persönlicher Verantwortung umfassen. Das heißt, dass sie sich auch mit den Wahrheiten über das als »Psychiatrie« bezeichnete Spezialgebiet der Medizin vertraut machen. Warum gerade Psychiatrie? Aus dem einfachen Grund, weil psychiatrische Maßnahmen – insbesondere Zwangseinweisungen und psychiatrische Begutachtungen im Strafverfahren – die alltäglichsten und am unkritischsten hingenommenen Methoden des modernen Staates sind, Menschen ihrer Freiheit und ihrer Verantwortung zu berauben.

Leider zeigen beim Thema Psychiatrie selbst die hartnäckigsten Verfechter der Freiheit ein Vertrauen und eine Naivität, die man sonst von ihnen nicht kennt. Was die Autoritäten sagen, nehmen sie für bare Münze, selbst wenn es zu ihren eigenen fundamentalsten Prinzipien im Widerspruch steht. Zur Illustrierung möchte ich – mit einigem Widerstreben, wie ich zugeben muss – an dieser Stelle als Beispiel Ludwig von Mises’ Anmerkungen zur Psychiatrie vorstellen.

Obwohl Ludwig von Mises formal gesehen Ökonom war, wäre es sicher richtiger, ihn als politischen Philosophen und insbesondere als Verteidiger einer auf privatem Eigentum und Rechtsstaatlichkeit fußenden individuellen Freiheit zu bezeichnen. Fest steht auch, dass er zu den intellektuellen und moralischen Riesen des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss und dass sein Hauptwerk, »Human Action«, eines der wichtigsten Bücher jenes Jahrhunderts ist.

Praxeologie und Psychiatrie

Im Gegensatz zu den konventionell und mit mathematischen Methoden arbeitenden Ökonomen, die sich mit Fragen wie Industrieproduktion, Zinsen, Geldfluss usw. beschäftigen, richtete sich Mises’ Hauptinteresse auf das menschliche Handeln: »Keine Behandlung nationalökonomischer Probleme kann darauf verzichten, von den Wahlakten auszugehen; die Nationalökonomie wird zu einem Teil … einer allgemeineren Wissenschaft, der Praxeologie [einer allgemeinen Theorie des menschlichen Handelns].«[1]

Unter dem Aspekt des Studiums menschlichen Verhaltens betrachtet sind Wirtschaftswissenschaften und Psychiatrie zweieiige Zwillinge: Ökonomen beschäftigen sich hauptsächlich mit den materiellen und politischen Konsequenzen von Entscheidungen und Handlungen, Psychiater dagegen vor allem mit deren persönlichen und zwischenmenschlichen Folgen. Dennoch zeigten Wirtschaftswissenschaftler nie irgendein Interesse an der Psychiatrie. In Anbetracht der Tatsache, dass die Psychiatrie ein vollständig von Zwang durchsetztes staatliches Unternehmen ist – sein Wahrzeichen und Ort ist die staatliche psychiatrische Klinik –, ist dies eine Unterlassung die überrascht, zumal, wenn man sie Ökonomen anlasten muss, die sonst den freien Markt propagieren. Natürlich können es weder Ökonomen noch Psychiater vermeiden, die Domäne des jeweils anderen zu betreten. Aber da die Brüder verschiedene Sprachen sprechen, erkennen beide ihr eigen Fleisch und Blut nicht.

Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet basiert auf der Idee von Wahnsinn als einer Krankheit. Beispielhaft dafür steht der Mensch, der von »unwiderstehlichen Impulsen« bedrängt wird und die aus einem verantwortlichen moralischen Subjekt einen »psychisch Kranken« machen, der für sein Verhalten nicht verantwortlich ist. Diese Vorstellung bildet die Basis für die strafrechtlichen Konzepte der Schuldunfähigkeit und der verminderten Schuldfähigkeit (insanity defense) wie auch für vieles andere in unserer Gesellschaft.

Sir Henry Maudsley (1835-1918), der unbestrittene Begründer der modernen britischen Psychiatrie, erläuterte dieses Grundkonzept der Psychiatrie: »Einen Wahnsinnigen dafür verantwortlich zu machen, dass er seine krankhaften Impulse nicht kontrolliert … ist in einigen Fällen so falsch in der Theorie und so grausam in der Praxis, wie es der Fall wäre, wenn man einen Menschen, der von durch Strichnin hervorgerufenen Krämpfen gequält wird, dafür verantwortlich machte, dass er seinen Krämpfen nicht Herr wird. … Es ist eine Tatsache, dass bei bestimmten Geisteskrankheiten ein morbider Impuls auf despotische Art und Weise Besitz von dem Patienten ergreifen und ihn dazu treiben kann, entgegen jeglicher Vernunft und gegen seinen eigenen Willen, einen verzweifelten Akt des Selbstmordes oder Mordes zu begehen; Wie die Besessenen früherer Zeiten, in die der unreine Geist eingefahren war, ist dieser Mensch besessen von einer Macht, die ihn zu einer Tat zwingt, die ihm größte Angst und Schrecken einjagt.«[2] (Hervorhebung hinzugefügt, T.S.)

Mehr als hundert Jahre später vertreten Psychiater und im psychiatrischen Denken geschulte Juristen und Politiker die gleiche Ansicht. Michael S. Moore, Professor der Rechtswissenschaften und Professor der Philosophie an der Universität von San Diego, schreibt: »Es ist weniger so, dass wir sie [die Geisteskranken] für etwas entschuldigen, für das sie auf den ersten Blick die Verantwortung tragen. Da wir nicht in der Lage sind, sie als vollständig rationale Wesen zu betrachten, fehlt uns vielmehr bereits die grundlegende Voraussetzung, in ihnen moralische Subjekte zu sehen. In diesem Sinne gesellen sich psychisch Kranke (in abnehmendem Grade) zu Kindern, wilden Tieren, Pflanzen und Steinen. Sie alle sind mangels der Annahme rationalen Handelns nicht verantwortlich.«[3]

Diese Passagen führen uns nahezu alle moralischen, medizinischen, linguistischen und juristischen Metaphern und Missverständnisse vor Augen, die die Grundlage der modernen Psychiatrie bilden. Indem die Psychiatrie (Fehl)Verhalten medizinalisiert, ersetzt sie religiösen Aberglauben durch weltliche Wissenschaftsgläubigkeit. Ohne dabei einen Zusammenhang mit Psychiatrie herzustellen, wies Mises diese Auffassung ausdrücklich zurück: »Straftaten, die in einem Zustand emotionaler Erregung oder im Rausch verübt wurden, milder zu bestrafen als andere Verbrechen ist gleichbedeutend mit der Förderung solcher Exzesse. … Der Mensch ist ein Wesen, das in der Lage ist, seine Triebe, Emotionen und Impulse zu beherrschen … Er ist nicht Marionette seiner Triebe. … er wählt und entscheidet sich; kurz: er handelt. … Menschliches Handeln ist notwendig immer rational. Der Begriff ›rationale Handlung‹ ist deshalb überflüssig und muss zurückgewiesen werden.« (Hervorhebung hinzugefügt, T.S.; HA, S. 16, 18).

Diese Gedanken bilden die Grundlage meiner Ansichten zu »psychischer Krankheit« und Psychiatrie. Wenn alle menschlichen Handlungen rational sind, dann ist keine Handlung irrational oder – wie Psychiater und deren Bewunderer es gerne ausdrücken – »sinnlos«. Es ist nur ein kleiner Schritt von Mises Behauptung, dass menschliches Handeln immer rational ist, zu meiner Behauptung, dass Geisteskrankheit ein Mythos ist.

Dennoch zeigt sich in Mises’ zahlreichen Äußerungen zu Wahnsinn und Verrücktheit eine unkritische Akzeptanz der offiziellen psychiatrischen Mythologie.

»Human Action«

Nachdem Mises dargelegt hatte, dass die Kooperation dem Zwang und der Anarchie grundlegend überlegen ist, schrieb er: »Selbst wenn wir zugeben, dass jeder geistig gesunde Erwachsene mit der Fähigkeit ausgestattet ist, den Vorteil sozialer Kooperation und entsprechenden Handelns zu begreifen, bleibt immer noch das Problem der Kinder, Alten und der Geisteskranken. Wir teilen die Ansicht, dass derjenige, der antisozial handelt, als psychisch krank und betreuungsbedürftig angesehen werden sollte.« (Hervorhebung hinzugefügt, T.S.; HA, 149)

Ich respektiere Mises zu sehr, um diese unglückliche Formulierung weiter zu kommentieren.

Manchmal widersprach Mises sich selbst, wenn er in einem Satz die Psychiatrie kritisierte und bereits im nächsten sich ihre Ansichten zu eigen machte. Er erklärte: »Nicht besser ist die heutzutage häufig anzutreffende Neigung, die Vertreter anderer Ideologien als Irre abzustempeln. Psychiater äußern sich nur sehr vage, wenn es darum geht, eine klare Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit zu ziehen.« (HA, 185) Aber dann fügte er hinzu: »Es wäre lächerlich, sich als Laie bei dieser für die Psychiatrie fundamentalen Frage einzumischen.« Da das Problem nicht bloß darin besteht, eine Grenze zwischen den abstrakten Konzepten »psychische Krankheit« und »psychische Gesundheit« zu ziehen, sondern festzulegen, welche Personen ihrer Freiheit und Verantwortung beraubt werden dürfen, obwohl sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen, weshalb ist es dann »lächerlich für einen Laien, sich bei dieser für die Psychiatrie fundamentalen Frage einzumischen«?

Tatsächlich tat Mises aber im Anschluss gerade dies, wenn auch viel zu zaghaft: »Fest steht hingegen, dass es sehr schwer sein dürfte, eine Person zu finden, die als ›gesund‹ oder ›normal‹ bezeichnet werden kann, wenn bereits die Tatsache ausreicht, dass ein Mensch irrige Ansichten vertritt und entsprechend handelt, um ihn zu einem geistig Behinderten zu machen. … Wenn zu irren das charakteristische Merkmal für eine geistige Behinderung ist, dann sollte jedermann als geistig behindert bezeichnet werden.« (HA, 185–6) Das ist exakt das, was Freud tat, und wofür er von Mises bewundert wurde.

Mises unterließ es, klar und ohne Umschweife zu sagen, dass es als fundamentales Menschenrecht gelten sollte, Wahnvorstellungen haben zu dürfen, damit nicht alle Unstimmigkeiten mit der Obrigkeit als Geisteskrankheit disqualifiziert werden können. Vermutlich sagte er dies deshalb nicht, weil es nicht seiner Überzeugung entsprach. Vieles deutet in diese Richtung: »Wenn eine Aussage nicht als logisch falsch entlarvt würde, dann wäre die Psychopathologie nicht in der Lage, den Geist, der diese Aussage hervorgebracht hat, als pathologisch zu qualifizieren. Wenn ein Mann glaubt, er sei der König von Siam, dann muss der Psychiater als erstes feststellen, ob jener tatsächlich das ist, was er glaubt zu sein. Nur bei einer negativen Antwort kann der Mann als wahnsinnig bezeichnet werden.« (Hervorhebung hinzugefügt, T.S.; HA, 316) Mises muss gewusst haben, dass für wahnsinnig gehaltene Menschen in psychiatrischen Kliniken eingesperrt werden, schwieg sich allerdings zu diesem Thema aus.

Mises zog nicht die Möglichkeit in Erwägung, dass der Mann, der von sich selbst behauptet, der König von Siam zu sein, ein Schauspieler sein könnte, der die Rolle des Königs spielt; oder dass er gelogen, d.h. eine Krankheit vorgetäuscht haben könnte, um einer Pflicht oder Strafe zu entgehen, wie zum Beispiel dem Militärdienst oder der Todesstrafe; oder dass er gegen seine eigene Bedeutungslosigkeit aufbegehrt und seine falsche Selbstidentifizierung als metaphorischer Ersatz gedient haben könnte; oder, und das ist am wichtigsten, dass der Glaube daran, der König von Siam zu sein, genauso wie der Glaube daran, sich nach dem Tod im Himmel oder in der Hölle wiederzufinden, als das Recht eines jeden, sich zu irren angesehen werden sollte und daher keinesfalls als ein Grund, eine Person in ein Gefängnis zu sperren, selbst wenn dieses Gefängnis »Krankenhaus« genannt wird.

»Liberalismus«

Das 20 Jahre vor »Human Action« und auf Deutsch verfasste Buch »Liberalismus« enthält weitere unüberlegte Äußerungen zur Psychiatrie. In der Einleitung stellt Mises in typisch psychiatrischer Manier fest: »Dieser Widerstand [gegen den Liberalismus] geht nämlich nicht von der Vernunft aus, sondern von krankhafter seelischer Einstellung: von Ressentiment und von einem neurasthenischen Komplex, den man nach dem französischen Sozialisten Fourier-Komplex nennen könnte.«[4] Im Jargon des Freudianischen Psychogeschwätzes fährt Mises fort:

»Viel schwerer ist es, gegen den Fourier-Komplex anzukämpfen. Hier liegt eine schwere Erkrankung des Nervensystems, eine Neurose vor, die mehr die Psychologie interessieren sollte als die Politiker. … Bedauerlicherweise haben sich die Ärzte bisher kaum noch mit den Aufgaben befasst, die ihnen der Fourier-Komplex bietet; Selbst Freud, der große Meister der Seelenforschung, und seine Schule haben in ihrer Neurosenlehre diese Dinge kaum beachtet, wenn man es auch der Psychoanalyse danken muß, dass sie den Weg, der allein zu einer einheitlichen und systematischen Erkenntnis dieser Art von Geistesstörungen führt, aufgespürt hat. … Nur die Neurosenlehre vermag den Erfolg zu erklären, der dem Fourierismus zuteil wurde, dem aberwitzigen Produkt eines schwer kranken Gehirns. Es ist nicht hier der Platz, um Fouriers Psychose durch Anführung von Stellen aus seinen Schriften zu belegen.« (Hervorhebung hinzugefügt, T.S.; L, 14-15)

Mises widersprach – in »Liberalismus« wie auch in »Human Action« – vehement der Ansicht, dass Drogenabhängigkeit eine Krankheit sei und dass es zu den Aufgaben des Staates gehöre, solches Verhalten zu bestrafen. Dennoch schrieb er 1944 in »Omnipotent Government«[5]: »Der Völkerbund möge den Kampf gegen ansteckende Krankheiten, Drogenhandel und Prostitution weiterführen.« (303).

Fazit

Jeder, der sich mit der conditio humana, den Bedingungen und Formen des Menschseins, beschäftigt und der darüber schreibt, wie Menschen leben oder leben sollten, ist unabhängig von offiziellen Titeln oder Berufszugehörigkeiten beeinflusst von den Weisen der Lebensführung, die er selbst schätzt oder missbilligt. Mises stellte darin keine Ausnahme dar. Er war ein großer Mann, jedoch nicht, weil er die Praxeologie als Wissenschaft vom menschlichen Handeln begründete – denn solch eine Wissenschaft kann es nicht geben.[6]

Mises ist deshalb von so großer Bedeutung, weil er erkannte, dass es sich bei den großen kollektivistischen »Befreiungs«bewegungen des 20. Jahrhunderts, Nationalsozialismus (Nazismus) und Internationaler Sozialismus (Kommunismus) schlicht um Wiederauflagen der Sklaverei handelte – und weil er unermüdlich und gegen große Widerstände gegen sie ankämpfte.

Es ist bedauerlich, dass Mises nicht sah, dass Psychiatrie (und Psychoanalyse durch ihr Bündnis mit der Psychiatrie) auch eine Form eines auf den Staat fixierten Pseudo-Liberalismus ist; und dass Psychiatrie dadurch, dass sie mit Medizin und Heilung assoziiert wird und nicht mit Militarismus und Töten, die heimtückischste und auf lange Sicht gefährlichste Form von Staatsgläubigkeit (statism) ist, die Menschen jemals hervorgebracht haben.

Übersetzung: Jan Groth

Das Original dieses Textes mit dem Titel »Mises and Psychiatry« erschien in Liberty, Februar 2002, Band 16, Nummer 2Externer Link. Wir danken dem Herausgeber für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.


[1]

Ludwig von Mises, »Human Action: A Treatise on Economics«, Yale University Press, 1949. Page 3. (PDF der 4. Ausgabe v. 1966: http://mises.org/books/humanaction.pdfExterner Link); Dieses Originalzitat wurde übernommen aus dem ursprünglichen Werk »Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens«, Editions Union Genf 1940, S. 3 (PDF: http://docs.mises.de/Mises/Mises_Nationaloekonomie.pdfExterner Link) Alle weiteren Zitate aus »Human Action« wurden übersetzt. Anm. d. Ü.

[2]

Henry Maudsley, »Responsibility in Mental Disease«, 4th ed. (Kegan Paul, Trench & Co., 1885.) Pages viii & 133.

[3]

Michael S. Moore, »Some myths about ›mental illness‹« Archives of General Psychiatry, (December, 1975); page 1495.

[4]

Ludwig von Mises, Liberalismus, G. Fischer, Jena 1927 (als PDF: http://docs.mises.de/Mises/Mises_Liberalismus.pdfExterner Link)

[5]

Ludwig von Mises, Omnipotent Government. The Rise of the Total State and Total War, Yale University Press, New Haven 1944 (Online: http://www.archive.org/details/omnipotentgovern031824mbpExterner Link)

[6]

Das ist keine Kritik an Mises. Meiner Ansicht nach sollte der Begriff »Wissenschaft« den harten (Natur-)Wissenschaften vorbehalten sein. Das schmälert allerdings nicht die Bedeutung anderer Formen des Lernens.


Letzte Aktualisierung am 24.03.2013
szasz-texte.de/texte/mises-und-die-psychiatrie.html