Geisteskrankheit: Das neue Phlogiston

Thomas S. Szasz

Kein Irrtum ist groß genug, um nicht selbst unter den fähigsten Männern Verteidiger zu finden. Lord Acton (1834-1902), »Democracy«

I

Menschen sind hungrig nach Antworten. Und je unwissender und ratloser die Menschen sind, desto zahlreicher sind ihre Antworten und desto sicherer erscheinen sie ihnen. In diesem Sinne gibt es keinen Unterschied zwischen Wissenschaftlern und gewöhnlichen Menschen. Den echten Wissenschaftler unterscheidet vom Laien lediglich, welche Tiefe, Tragweite, Schärfe und Erklärungskraft eine Schlussfolgerung für ihn aufweisen muss, um sie als korrekte Erklärung für seine Beobachtung gelten zu lassen, und der Grad seiner Bereitschaft, diese Erklärung im Lichte neuer Erkenntnisse zu revidieren. Im Folgenden geht es mir darum zu zeigen, dass die Geisteskrankheit für die Psychiatrie das ist, was das Phlogiston einst für die Chemie war.

In der Physik wenden wir dieselben Gesetze an, um zu erklären, weshalb Flugzeuge fliegen und weshalb sie abstürzen. In der Psychiatrie dient uns die eine Gruppe von Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung »psychisch gesunden« Verhaltens, welches wir auf Gründe (Wahlakte, Entscheidungen) zurückführen. Eine andere Gruppe von Gesetzmäßigkeiten wenden wir dagegen bei der Erklärung »psychisch kranken« Verhaltens an, welches wir auf Ursachen (Krankheiten) zurückführen. Gott, des Menschen Vorstellung von moralischer Vollkommenheit, beurteilt menschliches Tun, ohne zwischen »psychisch gesunden« Personen, die für ihr Verhalten verantwortlich sind, und »psychisch Kranken«, deren Missetaten entschuldigt werden sollten, zu unterscheiden. Die Behauptung, die Schuldunfähigkeitsverteidigung (insanity defense) sei Zeugnis von Mitgefühl, Gerechtigkeit oder Wissenschaftlichkeit, ist eine Anmaßung. Geisteskrankheit ist für die Psychiatrie, was Phlogiston einst für die Chemie war. Die Chemie wurde erst zu dem Zeitpunkt zu einer Wissenschaft vom inneren Wesen der Materie, als sie erkannt hatte, dass Phlogiston nicht existiert. Psychiatrie wird erst dann tatsächlich eine Wissenschaft vom menschlichen Verhalten sein, wenn sie erkannt hat, dass Geisteskrankheiten nicht existieren.

Der Vorläufer der Chemie war die Alchemie, die damals eng mit der Medizin verbunden war. Die beiden Pioniere der Chemie Johann Joachim Becher (1635-1682) und Georg Ernst Stahl (1660-1734) waren Ärzte und lebten zu einer Zeit, als die Menschen glaubten, dass sich die Probleme von Gesundheit und Krankheit am besten mittels der Viersäftelehre Galens erklären ließen.

Eines der wichtigsten Probleme, die es für die frühen Chemiker zu lösen galt, war die Erklärung der Verbrennung. Was geschieht, wenn eine Substanz verbrennt? Nach Stahls Ansicht enthielten alle brennbaren Körper eine materielle Substanz, die er »Phlogiston« nannte (abgeleitet von dem griechischen Wort für »verbrennen«). Während ihrer Verbrennung würden Stoffe das in ihnen enthaltene Phlogiston an die als chemisch inaktiv angesehene Luft abgeben. Die Phlogiston-Theorie dominierte mehr als ein Jahrhundert das wissenschaftliche Denken.

Es wurde jedoch beobachtet, dass Metall, nachdem es verbrannt (oxidiert) war, an Gewicht zugenommen hatte, wo es doch laut der Phlogiston-Theorie ein geringeres Gewicht hätte aufweisen müssen. Dieser Widerspruch wurde aufgelöst, indem man die Behauptung aufstellte, Phlogiston sei keine materielle Substanz, sondern es handele sich dabei um ein immaterielles Prinzip. Alternativ wurde vorgeschlagen, dass Phlogiston eine negative Masse habe. Als Chemiker den Wasserstoff entdeckten, glaubten sie, es handele sich dabei um reines Phlogiston.

Die Phlogiston-Theorie wurde durch die Arbeiten von Antoine Laurent Lavoisier (1743-1794) umgestürzt. Den die Verbrennung fördernden Anteil der Luft nannte Lavoisier »Sauerstoff«. Er leitete diesen Begriff von dem griechischen Wort für »Säure produzierend« ab, weil er fälschlicherweise dachte, dass Sauerstoff ein notwendiger Bestandteil aller Säuren sei. Den die Verbrennung nicht fördernden Hauptbestandteil der Luft nannte er »Azote« (nach dem griechischen Ausdruck für »kein Leben«). Azote wird heute »Stickstoff« genannt. In seiner historischen Schrift »Mémoire sur la calcination de l’étain dans les vaisseaux fermés et sur la cause de l’augmentation du poids qu’aquiert ce métal pendant cette opération«, 1775 bei der Französichen Königlichen Akademie der Wissenschaften eingereicht und 1778 veröffentlicht, widerlegte Lavoisier die Phlogiston-Theorie und legte den Grundstein für ein Verständnis der chemischen Reaktion als einer Verbindung von Elementen, bei der neue Stoffe entstehen. [1]

Haben Namen und Theorien sich erst einmal durchgesetzt, dann üben sie einen mächtigen Einfluss auf diejenigen aus, denen beigebracht wurde zu glauben, dass diese Namen und Theorien ein nicht wegzudenkenden Bestandteil dessen seien, wie die Dinge tatsächlich sind – kurz: der »Realität«. Neue Beobachtungen werden dann nur noch durch die Linsen der jeweils herrschenden mentalen Optik »gesehen« und beurteilt. Der große englische Chemiker Joseph Priestley (1733-1804) beispielsweise konnte nicht auf die Phlogiston-Theorie verzichten, auch nicht nach seiner Entdeckung des Sauerstoffs und nachdem Lavoisiers Arbeiten in die wissenschaftlichen Welt Eingang gefunden hatten. Für ihn war Sauerstoff »entphlogisierte Luft«. In der 1796 veröffentlichten Streitschrift mit dem Titel »Considerations on the Doctrine of Phlogiston and the Decomposition of Water« sprach er von Lavoisiers Anhängern als »Antiphlogisten« und beanstandete: »Insgesamt, so muss ich sagen, bin ich nicht im geringsten überrascht, dass eine Theorie, die so neu und von solcher Tragweite ist, dass sie alles in Frage stellt, was bisher als anerkannte und abgesicherte Chemie galt, auf einem solch schmalen und unsicheren Fundament ruht …« [2]

Zur gleichen Zeit, als aus der Alchemie die Chemie wurde, wurde die Seele zum Geist (mind) und die Sünde zu Krankheiten (des Geistes). Die frühen Irrenärzten gaben diese Metamorphose offen zu. Statt jedoch zu erkennen, dass es sich dabei um einen frühen Ausdruck eines Wandels von einem religiösen hin zu einem säkularen Verständnis menschlichen Verhaltens handelte, betrachteten sie sie als Ausdruck des wissenschaftlichen Forschritts und waren überzeugt, eine Reihe neuer Hirnerkrankungen entdeckt zu haben, die sie »Geisteskrankheiten« nannten.  

Was Georg Ernst Stahl für die frühe Chemie und für das Phlogiston war, war Benjamin Rush (1745-1813) für die frühe Psychiatrie und für die Geisteskrankheiten.

II

Die modernen Naturwissenschaften beruhen auf Gesetzen, die von menschlichen Wünschen und Motiven unbeeinflusst sind. Wir benutzen dieselben physikalischen Gesetze, um zu erklären, weshalb Flugzeuge fliegen und weshalb sie abstürzen, dieselben chemischen Gesetze, um die therapeutischen wie auch die toxischen Wirkungen von Arzneimitteln zu erklären, und wir benutzen dieselben biologischen Gesetze, um zu erklären, wie gesunde Zellen die Integrität des Organismus aufrecht erhalten und wie sie zu Krebszellen werden können, die den Wirt zerstören. Die normalen Funktionsweisen des Körpers erklären wir nicht mit der einen Gruppe medizinischer Theorien und mit einer anderen seine abnormen Funktionsweisen.

In der Psychiatrie ist das Gegenteil der Fall. Wir benutzen die eine Gruppe von Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung der Funktionsweise der psychisch gesunden Person, und eine andere Gruppe von Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung der Funktionsweise der psychisch kranken Person: wir führen erwünschtes, »rationales« Verhalten auf Gründe zurück und unerwünschtes, »irrationales« Verhalten auf Ursachen Die psychisch gesunde Person wird als aktiv Handelnder gesehen: er wählt und entscheidet sich – zum Beispiel, seine Liebste zu heiraten. Im Gegensatz dazu wird die psychisch kranke Person als passiver Körper betrachtet: als Patient ist sie das Opfer der Einwirkung schädlicher biologischer, chemischer oder physikalischer Prozesse auf ihren Körper, das heißt, von Erkrankungen (ihres Gehirns), zum Beispiel eines »unwiderstehlichen Drangs« zu töten. »Die epileptische Neurose,« schrieb Sir Henry Maudsley (1835-1918), der Begründer der modernen britischen Psychiatrie, "besteht darin, dass sie jederzeit in einen krampfartigen Ausbruch der Gewalt ausarten kann. … Einen Wahnsinnigen dafür verantwortlich zu machen, dass er seine krankhaften Impulse nicht kontrolliert … ist in einigen Fällen so falsch … wie es der Fall wäre, wenn man einen Menschen, der von durch Strichnin hervorgerufenen Krämpfen gequält wird, dafür verantwortlich machte, dass er seinen Krämpfen nicht Herr wird.” [3]Wir haben es hier mit einer falschen Analogie zu tun. Töten ist eine koordinierte Handlung. Ein Krampf ist eine unkontrollierte Kontraktion der Muskeln, ein Ereignis.

Da Erklärungen für menschliches Verhalten Recht und Sozialpolitik weit mehr und tiefgreifender beeinflussen als Erklärungen für Naturereignisse, hat die Geisteskrankheitstheorie menschlichen Verhaltens weit reichende Konsequenzen für nahezu jeden Bereich unseres täglichen Lebens. Das folgende Zitat des Juraprofessors Michael S. Moore ist Ausdruck eines Standpunktes, der mittlerweile von einem Großteil der Juristen, Psychiater und der breiten Öffentlichkeit geteilt wird:

»Da Geisteskrankheit unsere Annahme der Rationalität hinfällig werden läßt, halten wir die Geisteskranken nicht für verantwortlich. Es ist weniger so, dass wir sie [die Geisteskranken] für etwas entschuldigen, für das sie auf den ersten Blick die Verantwortung tragen. Da wir nicht in der Lage sind, sie als vollständig rationale Wesen zu betrachten, fehlt uns vielmehr bereits die grundlegende Voraussetzung, in ihnen moralische Subjekte zu sehen. In diesem Sinne gesellen sich Geisteskranke (in abnehmendem Grade) zu Kindern, wilden Tieren, Pflanzen und Steinen. Sie alle sind mangels der Annahme rationalen Handelns nicht verantwortlich.« [4]

Wir sind stolz darauf, uns von unseren vorurteilsgeprägten Überzeugungen hinsichtlich der Unterschiede in der menschlichen Natur von Männern und Frauen oder Weißen und Schwarzen verabschiedet zu haben. Gleichzeitig sind wir sogar noch stolzer, eine Reihe psychiatrischer Überzeugungen über den Unterschied hinsichtlich der neuroanatomischen und neurophysiologischen Natur der psychisch Gesunden und der psychisch Kranken geschaffen zu haben. Oxidation, ein realer Prozess, erklärt Verbrennung besser als Phlogiston, eine nicht existierende Substanz. Alles menschliche Verhalten Wahlakten (choices) zuzuschreiben, dem grundlegenden Baustein unserer sozialen Existenz, erklärt menschliches Verhalten besser, als bestimmte (unerwünschte) Handlungen auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen, also auf eine Krankheit, die es nicht gibt.

Eine Ursache kann für einen Moment oder über einen längeren Zeitraum wirken. Eine ruhende Billiardkugel beginnt sich in dem Moment zu bewegen, wo sie von einer anderen Kugel getroffen wird. Eine gebrochene Hüfte macht uns für Tage oder Wochen das Gehen unmöglich. Daher ist es nicht ausreichend zu sagen, dass jemand eine Person vor einen U-Bahn-Zug stößt, weil er Schizophrenie hat, und dass die Schizophrenie durch einen neurochemischen Prozess im Gehirn verursacht wird. Wir müssen genauso erklären, warum er tat, was er tat, als er es tat. Der behauptete Zustand »Schizophrenie« ist dazu insofern nicht in der Lage, als er einerseits bereits bestanden hat, bevor der Mord stattfand, und andererseits angeblich Millionen Menschen von diesem Zustand betroffen sein sollen, ohne jedoch jemals gewalttätig zu werden.  

Verläßt jemand, während es draußen regnet, das Haus und öffnet seinen Regenschirm, dann tut er dies, weil er nicht nass werden will. Stößt jemand einen anderen Menschen vor eine U-Bahn, dann nicht deswegen, weil er Schizophrenie »hat« oder weil die Schizophrenie ihn dazu »zwingt«. Er tut es, weil er – so, wie der Mann, der seinen Regenschirm öffnet – seine Lage verbessern will. Genauso können wir das scheinbar irrationale Verhalten einer Person dadurch erklären, dass wir es auf einen Grund zurückführen, beispielsweise auf das Bedürfnis, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder auf den Wunsch, seiner Verantwortung für Unterkunft und Ernährung zu entfliehen.

Kurz gesagt, unabhängig vom Zustand des Gehirns einer »irrational« handelnden Person bleibt sie doch ein moralisches Subjekt, das Gründe für ihr Handeln hat: Wie wir alle wählt oder will sie, was sie tut. Menschen mit Erkrankungen des Gehirns – amyotrophe Lateralsklerose, multiple Sklerose, Parkinson, Glioblastom – sind Personen, deren Handlungen auch in diesem Zustand durch ihre Wünsche oder Motive maßgeblich beeinflusst. Die Krankheit schränkt zwar ihre Handlungsfreiheit ein, ändert aber nichts daran, dass sie moralische Subjekte sind.

III

Der psychiatrischen Theorie zufolge sollten bestimmte Handlungen bestimmter Personen Ursachen, nicht Gründen zugeschrieben werden. Wann und warum suchen wir nach kausalen Erklärungen für das Verhalten einer Person? Wenn wir das Verhalten der Person als unvernünftig beurteilen, ihr dieses Verhalten aber nicht anlasten wollen. Wir suchen dann nach einer als Erklärung getarnten Entschuldigung, statt einfach nach einer Erklärung, die weder entschuldigt noch beschuldigt.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Erklärungen für die Bewegung von Objekten und Erklärungen für das Verhalten von Personen. Unsere Erklärung der Planetenbewegungen ist (heute) frei von moralischen Implikationen, wohingegen unsere Erklärungen für das Verhalten von Menschen stark mit moralischen Implikationen befrachtet sind. Normalerweise halten wir Menschen verantwortlich für das, was sie tun, nicht aber für das, was ihnen zustößt. Einverständnis und Meinungsverschiedenheit, Zustimmung und Ablehnung, Lob und Tadel, sind verborgene Elemente jenes Vokabulars, das wir für die Erklärung persönlichen Verhaltens benutzen.

Einen Menschen für sein Verhalten verantwortlich zu machen, ist nicht dasselbe, wie ihn für dieses Verhalten zu loben oder zu tadeln: es bedeutet nur, dass wir ihn als Handelnden bzw. moralisches Subjekt betrachten. Mit Lob oder Tadel beurteilen wir seine Handlung (oder ihn als Person) als moralisch schlecht oder als tugendhaft; weder in dem einen, noch dem anderen Fall wird die Urheberschaft seines Verhaltens in Frage gestellt. Einen Menschen für seine Handlung nicht verantwortlich zu machen, bedeutet umgekehrt, dass wir ihn nicht als (vollwertigen) Handelnden bzw. als moralisches Subjekt anerkennen. Stattdessen betrachten wir ihn als Opfer seiner »Krankheit«. Obwohl wir solch einen Menschen von Schuld für die von ihm begangene schädigende Handlung (z.B. Mord) freisprechen, verurteilen wir dennoch seine Handlung und berauben ihn dennoch seiner Freiheit. Wir haben nicht bewiesen, dass er keine Gründe für sein Verhalten hat. Wir haben lediglich eine andere (auf Ursachen, nicht auf Gründen basierende) Erklärung für sein Verhalten geliefert und damit eine andere Rechtfertigung, um ihn (aufgrund medizinischer, statt aufgrund juristischer Erwägungen) einzusperren. Kurzum: Verteidigung und Urteil mit der Begründung Geisteskrankheit und die Überstellung des »Freigesprochenen« in die forensische Psychiatrie bilden ein Bündel von Taktiken, das dann zum Einsatz kommt, wenn wir den Täter nicht als moralisches Subjekt anerkennen, sondern ihn lieber als Geisteskranken »behandeln« wollen.

Es irrt sich, wer glaubt, dass mit einer entschuldigenden Erklärung der Nachweis erbracht sei, dass der Täter keine Gründe für sein Handeln hatte. Eine Entschuldigung für die Handlung X vorzubringen, wie beispielsweise »Gott hat es mir befohlen«, ist nicht das Gleiche, wie keine Gründe für X zu haben. Im Gegenteil: mit der Entschuldigung geben wir nicht etwa zu verstehen, dass der Täter keine Gründe hat, sondern, dass diese Gründe abwegig (»wahnsinnig«, »verrückt«, »geistesgestört«) sind. Wir schließen daraus, dass seine Handlungen durch seinen »Wahnsinn«, seine »Verrücktheit«, seine »Geisteskrankheit« verursacht werden. Nichts von alledem haben wir jedoch bewiesen; wir haben es lediglich postuliert.

Bis zum 18. Jahrhundert sah man in Menschen, die abscheuliche Verbrechen begingen oder sich merkwürdig verhielten, eine Ähnlichkeit zu wilden Tieren. Diese Vorstellung ist der Ursprung des überholten »Bestien«-Modells der Geisteskrankheit und der sich auf sie berufenden Verteidigung. Einen »wahnsinnigen« Menschen, dessen »Stimmen« ihm befehlen zu töten, als eine Art Automat oder Roboter zu betrachten – das heißt also, als ein Objekt, das sich menschenähnlich bewegt, ohne tatsächlich menschlich zu sein –, ist eine moderne Vorstellung. Wenn man die Versicherung eines »Schizophrenen« akzeptiert, er habe seine Frau getötet, weil Gottes Stimme ihm dies befohlen hätte, so hat man damit noch lange nicht den Beweis für die Gültigkeit der Erklärung erbracht. Aus meiner Sicht tötet dieser Mensch sein Opfer, weil es das ist, was er will. Er verleugnet aber die Absicht, die hinter dieser Handlung steht. Anstatt seine Motive zuzugeben, macht er aus sich einen hilflosen Sklaven, der nur Befehle ausführt. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, sind die sogenannten Stimmen, die manche psychisch kranken Menschen »hören«, ihre eigenen Stimmen oder Gespräche, die sie mit sich selbst führen, deren Urheberschaft sie aber verleugnen. [5]Diese Interpretation wird durch die Tatsache gestützt, dass durch hirnphysiologische Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren bei halluzinierenden Personen zwar eine Aktivierung des für die Sprachproduktion verantwortlichen Broca-Areals festgestellt werden konnte, jedoch keine Aktivierung derjenigen Hirnregion, die für das Sprachverständnis verantwortlich gemacht wird (Wernicke-Areal). [6]

Ein »psychisch Kranker«, der für das von ihm begangene Verbrechen »Stimmen« – also etwas, das nicht er selbst ist und dessen Autorität er vollständig unterworfen ist – verantwortlich macht, ist nicht das Opfer eines unwiderstehlichen Drangs. Er ist ein Handelnder, ein Täter, der seine Handlung rationalisiert, indem er sie einer übermächtigen Autorität zuschreibt. Die Analogie zwischen einer Person, die »Stimmen hört«, und einem Objekt, das – wie ein für das Schachspielen programmierter Computer – auf Informationen reagiert, ist falsch. Psychisch Kranke, die auf die Befehle von »Stimmen« reagieren, gleichen Personen, die den Befehlen einer übermächtigen Autorität gehorchen, wie beispielsweise Selbstmordattentäter, die sich selbst im Namen Gottes als Märtyrer opfern. Beide Personengruppen sind moralische Subjekte, wenngleich beide sich als sklavenähnliche Objekte präsentieren, die lediglich den Willen anderer (oft Gottes oder des Teufels) ausführen. Diese Darstellungen sind dramatische Metaphern, die Darsteller wie Publikum als buchstäblich wahr interpretieren können oder auch nicht. Es ist kein Zufall, dass es in der gesamten psychiatrischen Literatur nicht eine einzige Beschreibung von Stimmen gibt, die einem Schizophrenen befohlen hätten, seine Gattin ganz besonders freundlich zu behandeln. Das liegt daran, weil Freundlichkeit seiner Gattin gegenüber nicht zu der Art von Verhalten gehört, das wir kausal (psychiatrisch) erklären wollen.

Die einfache, aber trügerische Gleichsetzung von Geisteskrankheit und mentaler Inkompetenz schließt eine empirisch valide und logisch konsistente psychiatrische Erklärung von Verhalten aus. Zum Beispiel kann die Überzeugung eines Patienten, seine Frau sei eine Hexe, eine Metapher sein (für seine Ansicht, dass sie ein schlechter Mensch sei), oder es könnte ein »Wahn« sein (ähnlich einem falschen/eigennützigen/destruktiven Glauben, wie Abrahams Glaube, es sei Gottes Wunsch, dass er seinen Sohn opfere). Eine Person, die aufgrund falscher Informationen (z.B. eines falschen Fahrplans) handelt, ist für uns nicht jemand, der für sein Verhalten keine Gründe hat. Ebenso wenig sollten wir die Person, die sich von einer falschen Überzeugung (»Wahn«) leiten lässt, wie jemand behandeln, der keine Gründe für sein Verhalten hat. Wie ich bereits erwähnte, ist es vielleicht unser Wunsch, diese Person als nicht tadelnswürdig anzusehen. Das ist jedoch nicht das Gleiche, wie zu behaupten, dass sie ohne Grund handele oder dass ihre Taten »ohne Bedeutung« oder »sinnlos« seien. Diese Begriffe verwenden wir gewöhnlich dann, wenn es darum geht, die Bedeutung oder den Sinn eines abscheulichen Verbrechens in Abrede zu stellen.

Der typische psychisch Kranke ist ein Erwachsener, der bei Bewusstsein ist und der nicht für geschäftsunfähig erklärt wurde. “Ernsthaft psychisch erkrankten Patienten mangelt es weder an Einsicht, noch ist ihre Kompetenz in dem Maße beeinträchtigt, wie bisher angenommen", schreibt George Hoyer, Professor am Institut für Gemeindemedizin der Universität Tromse, Norwegen. [7]Außerdem werden psychisch Kranke häufig für einige Dinge als kompetent erachtet, für andere Dinge aber nicht. So werden sie beispielsweise für kompetent gehalten, in einem eigenen Haushalt zu leben, aber nicht, eine medikamentöse psychiatrische Behandlung abzulehnen; für kompetent, sich vor Gericht zu verantworten, aber nicht, sich vor Gericht auch selbst zu vertreten; für kompetent, ihr Wahlrecht auszuüben, aber nicht, sich selbst aus einem Krankenhaus zu entlassen. [8]  

Kleine Kinder und senile Menschen mögen schlechte oder wenig überzeugende Gründe für ihre Handlungen vorzuweisen haben. Aber noch einmal: das bedeutet nicht, dass ihre Handlungen nicht durch Gründe motiviert sind. Kinder erziehen, »primitive Völker zivilisieren«, Menschen mit Zwang zum »wahren Glauben« bekehren, Kriminelle rehabilitieren und viele andere Verhältnisse von Herrschaft und Unterwerfung beruhen auf der Prämisse, dass die Handlungsgründe der Unterworfenen unreif oder falsch sind und »korrigiert« werden müssten, um sie in den Genuss »wahrer Freiheit« kommen zu lassen. Solange die Beziehungen zwischen Psychiatern und ihren Patienten (besonders »Psychotikern«) auf einem Herrschaftsverhältnis beruhen, solange dient die Idee der Geisteskrankheit einem ähnlichen Zweck: sie erklärt das (Fehl-)Verhalten der minderwertigen Person, spricht sie von Schuld frei und rechtfertigt ihre gewaltsame Kontrolle durch Psychiater.

»In ›Der Mythos der Geisteskrankheit‹«, so Rupert Wilkinson, Professor an der University of Sussex, »identifizierte der Psychiater Thomas Szasz … einen wichtigen Prozess, den wir als eine ›Verfolgung durch Sprache‹ bezeichnen könnten. … Der Menschenfreund in uns, so scheint es, fügt der Sprache Wörter hinzu, um unser Mitgefühl zu fördern – aber das Bedürfnis danach, verachten und die eigenen Schwächen verdrängen zu können, ist deshalb nicht aus der Welt geschafft. … Die psychopathologischen Begrifflichkeiten ersetzen Etiketten des moralischen Mangels durch Etiketten der Inkompetenz – in einer säkularen Gesellschaft ist dies wahrlich kein Geschenk.« [9]

IV

Das Wort »mind« und der davon abgeleitete Begriff der Geisteskrankheit (mental illness) sind zwei unserer wichtigsten, aber gleichzeitig auch verworrensten und vewirrendsten Ideen. Das lateinische Wort mens bedeutet nicht nur »mind« (Geist, Psyche), sondern auch »Absicht« und »Wille«, eine Bedeutung, die sich auch heute noch in unserer Benutzung des Wortes »mind« als Verb zeigt. Da wir Absichten nur intelligenten und empfindungsfähigen Wesen zuerkennen, impliziert »minding« ein moralisches Subjekt.

Der Begriff »mind« – verstanden als die Anerkennung nur bestimmter Personen als moralische Subjekte – spielt in der Moralphilosophie, im Recht und in der Psychiatrie eine entscheidende Rolle. Kinder und demente alte Menschen können nicht durch Sprache kommunizieren und sind deshalb gewöhnlich aus der Kategorie der moralischen Subjekte ausgeschlossen. In der Vergangenheit wurde auch beispielsweise Sklaven und Frauen, also Menschen, die durchaus zur sprachlichen Kommunikation fähig waren, der Status des moralischen Subjekts verweigert. Heute wird vielen Kindern und psychisch Kranken trotz bestehender Kommunikationsfähigkeit dieser Status verweigert. Es geht darum, dass die Anerkennung des Anderen als moralisches Subjekt gleichzeitig eine Frage von Tatsachen, wie auch von taktischen Überlegungen ist: es handelt sich um eine Entscheidung, die nicht nur abhängt von den Fähigkeiten des Anderen, sondern auch von unserer Haltung ihm gegenüber. Um als moralisches Subjekt anerkannt zu werden, muss ein Individuum den Willen haben und die Bereitschaft zeigen, ein verantwortliches Mitglied der Gesellschaft zu sein – und die Gesellschaft muss bereit sein, ihm diese Fähigkeiten und diesen moralischen Status zuzuerkennen.

Die Abhängigkeit der Zuerkennung moralischer Subjekthaftigkeit von geistiger und psychischer Befähigung (mindedness) macht aus der Beurteilung ihrer Beeinträchtigung – das heißt, der Diagnose »Geisteskrankheit« – eine Angelegenheit von größter rechtlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. In diesem Zusammenhang verdienen zwei gängige und für unsere Zeit charakteristische Taktiken besondere Beachtung. Die eine ist die Behandlung von Personen als inkompetent, wenn sie es gar nicht sind – und ihnen unter dem Vorwand der Hilfe zu schaden. Die andere ist die Behandlung von Personen als Opfer, wenn sie tatsächlich Täter sind (die sich selbst oder anderen Schaden zufügen) – und sie von ihrer Verantwortung für ihr Verhalten freizusprechen (und dabei einem unschuldigen Dritten die Selbstschädigung oder Schädigung anderer anzulasten).

Paradoxerweise ist die alte, vorwissenschaftliche Erklärung menschlichen Verhaltens mehr den Tatsachen verpflichtet als die moderne, wissenschaftlich-psychiatrische Erklärung. Mit der Erfindung eines von uns »Gott« genannten Vollkommenen Richters haben wir eine Instanz geschaffen, die nicht zwischen zwei verschiedenen Arten des Verhaltens unterscheidet – zwischen rationalem Verhalten, für das Menschen verantwortlich sind, und irrationalem Verhalten, für das sie es nicht sind.

Verantwortlich gehalten zu werden für unsere Handlungen, das macht uns zu vollwertigen Menschen: es ist die Ehre, die Gott jedem zuteil werden lässt – und die Last, die Er jedem aufbürdet.

Falsche Erklärungen der materiellen Welt führen zu physischen Katastrophen, falsche Erklärungen des menschlichen Daseins führen zu moralischen Katastrophen.

Übersetzung: Jan Groth

Das Original dieses Textes mit dem Titel »Mental Illness: The New Phlogiston« erschien in Thomas Szasz, The Medicalization of Everyday Life, Syracuse, NY: Syracuse University Press, 2007 [10]. Wir danken Thomas Szasz für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

[1]

Arthur Donovan, Antoine Lavoisier: Science, Administration, and Revolution (Oxford: Blackwell, 1993).

[2]

Joseph Priestley, Considerations on the Doctrine of Phlogiston and the Decomposition of Water (Philadelphia: Thomas Dobson, 1796), http://web.lemoyne.edu/~giunta/priestley.html [11] (accessed April 15, 2007).

[3]

Maudsley H. In Reynolds EH and Trimble M R. eds. Epilepsy and psychiatry. London: Churchill Livingstone, 1981; 4.

[4]

Michael S. Moore, »Some myths about ›mental illness,‹« Archives of General Psychiatry 32 (1975): 1483-1497.

[5]

Thomas Szasz, »›Audible Thoughts‹ and ›Speech Defect‹ in Schizophrenia: A Note on Reading and Translating Bleuler,« British Journal of Psychiatry 168 (1996): 533-35.

[6]

Thomas Szasz, The Meaning of mind: Language, Morality, and Neuroscience [1996] (Syracuse: Syracuse University Press, 2002), 124-29.

[7]

George Hoyer, »On the Justification for Civil Commitment,« Acta Psychiatrica Scandinavica, 101 (2000): 65-71.

[8]

George J. Alexander GJ and Alan W. Scheflin, Law and Mental Disorder (Durham, NC: Carolina Academic Press, 1998).

[9]

R. Wilkinson, »Word-Choosing: Sources of a Modern Obsession,« Encounter (May 1982): 80-87.

[10]
siehe books.google.de/books?id=u9qWtgitwcIC

Letzte Aktualisierung am 24.03.2013
szasz-texte.de/texte/geisteskrankheit-das-neue-phlogiston.html