Die Furcht vor Selbstbestimmung

Drogenverbot und Selbstmord

Thomas S. Szasz

»Die Regierung macht uns das Angebot, uns von sämtlichen Übeln der Menschheit zu befreien … Es müssten dazu lediglich einige neue Behörden geschaffen und ein paar zusätzliche Staatsdiener bezahlt werden. Das taktische Prinzip besteht kurz gesagt in der Schaffung von etwas, das den Anschein einer Dienstleistung erweckt, in Wahrheit aber aus nichts anderem als Einschränkungen und Zwängen besteht. Die Nation zahlt – aber nicht dafür, dass ihr gedient, sondern dafür, dass ihr geschadet wird.«

Frederic Bastiat, Economic Sophisms (1845)

I

»In America«, witzelte Will Rogers, »gibt es für alles einen Werbespruch. Und von allem Unsinn, den es in Amerika gibt, ist der Werbespruch der größte … Sogar für den Kongress gibt es Werbesprüche: ›Warum zu Hause schlafen, wenn du es auch im Kongress tun kannst?‹ ›Werde Politiker – Ausbildung nicht erforderlich!« [1]

Ich würde hinzufügen, dass zum größten Unsinn in Amerika Werbesprüche zu den Themen Drogen und medizinische Ethik zählen: »Just say no to drugs« (Sag nein zu Drogen), »the sanctity of life« (Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens), »pro-choice,« (Für Wahlfreiheit), »the right to life,« (Das Recht auf Leben) »the right to die,« (Das Recht auf Sterben), »the right to treatment« (Das Recht auf Behandlung), »the right to reject treatment« (Das Recht auf Ablehnung einer Behandlung) – alles Werbesprüche, einige widersprechen einander und existieren dennoch in trauter Nachbarschaft und in durch keinen Gedanken getrübter Harmonie. Wenn das Recht auf Autonomie – auf unseren Körper, unseren Geist, unser Selbst – irgendetwas bedeutet, dann ist es das Recht auf Selbsttötung. Und wenn »pro-choice« (Für Wahlfreiheit) irgendetwas bedeutet, dann muss es das Recht bedeuten, jede erdenkliche Droge zu benutzen oder ihren Gebrauch abzulehnen. Und doch sind gerade dies die Rechte, die heute kein normaler Amerikaner unterstützt. Suizid ist für uns mit so vielen Ängsten verbunden, dass wir uns sogar davor fürchten, etwas darüber zu erfahren. In seiner Ausgabe vom 18. Mai 1992 berichtet die Zeitschrift U.S. News & World Report, dass laut einer Umfrage 71 Prozent der amerikanischen Bevölkerung es begrüßen würden, wenn es in Bibliotheken ein Verbot für »Bücher [gäbe], die erklären, wie man sich selbst töten kann«. [2]Ich würde deshalb sagen, dass die Angst vor der Versuchung, sich das Leben zu nehmen, ein entscheidender, jedoch kaum berücksichtigter Aspekt der Drogenpolitik ist.

Das Recht zu haben, X zu tun, bedeutet nicht, dass X eine moralische Anerkennung verdienen würde. Wir haben das Recht, uns von unserem Ehepartner zu trennen, Politiker zu wählen, die wir überhaupt nicht kennen, zu essen, bis wir übergewichtig werden oder unser Geld für Lottoscheine zu verschwenden. Die Formulierung »Recht auf Selbsttötung« bedeutet also nicht, dass Selbsttötung eine moralisch wünschenswerte oder verdienstvolle Handlung sei. Es bedeutet lediglich, dass der Staat und die in seinem Auftrag Handelnden kein Recht oder keine Macht haben, sich durch Verbote oder Bestrafungen in die Entscheidung einer Person einzumischen, sich selbst das Leben zu nehmen. Denjenigen, die einen bestimmten Menschen vom Suizid abhalten wollen, bleibt nur ihre Überzeugungskraft, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

II

Weil wir einen freien Markt für Nahrungsmittel haben, können wir so viel Schinken, Eier und Eis kaufen wie wir wollen und uns leisten können. Wenn wir einen freien Markt für Drogen hätten, könnten wir in gleicher Weise so viel Barbiturate, Chloralhydrat und Morphium kaufen wie wir wollten und uns leisten könnten. Dann hätten wir die Freiheit, auf einfache, angenehme und sichere Weise zu sterben – ohne irgendeine Notwendigkeit, sich an Todesärzte wenden oder auf gewaltsame Methoden der Selbsttötung zurückgreifen zu müssen. Wir bräuchten keine Angst mehr haben zu müssen, gegen unseren Willen am Leben erhalten zu werden, um einen langen, schmerzvollen und absurd teuren Tod in einem fälschlicherweise als »Krankenhaus« bezeichneten Gebäude zu sterben. Wir würden uns dann nicht mehr über Ärzte, Pflegepersonal, Verwandte, Krankenhäuser und Gerichte beklagen müssen, die uns zu viel oder zu wenig behandeln, uns schmerzstillende Medikamente vorenthalten, uns am Leben erhalten und uns unser »Recht auf Sterben« nehmen. [3]

Wie entstand die Idee von einem »Recht auf Sterben«? Wie kann das unvermeidliche Schicksal aller Lebewesen ein Recht sein? Was bedeuten diese Worte? Hauptsächlich beziehen sie sich auf unsere etwas diffuse Ablehnung eines Spektakels, bei dem Ärzte sterbende Personen mit Hilfe moderner Biotechnologie am Leben erhalten. Warum tun Ärzte das? Weil sie die Macht genießen, die ihnen Wissenschaft und Staat in die Hände gelegt haben; weil es für sie oft berufliche wie auch ökonomische Anreize dafür gibt; weil sie glauben, dies entspräche dem Patientenwillen; weil Gerichte oder die Verwandschaft von ihnen verlangen, »jede Möglichkeit« auszuschöpfen, um den Patienten am Leben zu erhalten; und zu guter Letzt, weil der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen als bewusste Tötung des Patienten angesehen werden könnte. Kurz gesagt gibt es das Gerede von einem »Recht auf Sterben« nur deshalb, weil wir lieber erhaben klingende Phrasen wiederkäuen, statt ernsthaft über den Sinn des Lebens nachzudenken.

Für die meisten von uns hat der Begriff der »Unantastbarkeit des Lebens« praktisch jede Bedeutung verloren. Wir klammern uns an das Leben – bis zu einem gewissen Punkt. Dann möchten wir, dass uns »erlaubt« werde zu sterben – eine Vorstellung, die fälschlicherweise den Eindruck erweckt, dass wir untrennbar an Personen gebunden seien, die fest entschlossen sind, uns vom Sterben abzuhalten. Um ihnen diese Rolle zu verweigern, haben wir die Behauptung, wir hätten ein »Recht auf Leben« (mittlerweile das Code-Wort der Abtreibungsgegner), ergänzt um die scheinbare Gegenbehauptung, wir hätten ein »Recht auf Sterben«.

Die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden semantisch reziproken Rechten ist jedoch trügerisch. Beide Rechte beziehen sich jeweils auf eine völlig unterschiedliche Gruppe existentieller Entscheidungen und ethischer Probleme. Die Formulierung »Recht auf Leben« bezieht sich auf den (»natürlichen«) Beginn des Lebens; zudem wird dieses »Recht« allen ungeborenen Föten zuerkannt und jeder Einzelne hat einen bedingungslosen Anspruch darauf. Dagegen bezieht sich die Formulierung »Recht auf Sterben« auf die (»unnatürliche«) Beendigung des Lebens, und dieses »Recht« wird nur unheilbar Kranken zugeschrieben und in der Praxis häufig durch die Angehörigen vertreten.

Die Formulierung »Recht auf Sterben« ist also nicht nur Sinnbild unserer Unsicherheit in Bezug auf Selbsttötungen und unserer Sehnsucht nach dem guten Arzt, der uns im richtigen Moment und auf die richtige Art töten möge, sondern, und noch viel grundlegender, unserer Zurückweisung der Eigentümerschaft an unserem Körper und der Verantwortlichkeiten, die sich daraus ergeben. Es bleibt abzuwarten, wie viele Amerikaner lieber Ärzten per Gesetzgebung das Recht einräumen wollen, sie umbringen zu dürfen, als für sich selbst das Recht auf Drogenbesitz geltend zu machen, und die dabei gleichzeitig zur Übernahme der Verantwortung bereit sind, die der Besitz solch wertvollen Guts mit sich bringt.

Solange das »Recht auf Sterben« nicht auch ein uneingeschränktes Recht auf Selbsttötung beinhaltet – ein Punkt, den seine Unterstützer stets unerwähnt lassen –, so lange handelt es sich dabei um nichts anderes, als um einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Medizinalisierung des Lebens und in die tödliche Umarmung des Therapeutischen Staates.

Auf der anderen Seite muss dieser Begriff, wenn er auch das Recht auf Selbsttötung einschließt und nicht nur eine leere Worthülse sein will, auch das "Recht auf Drogen" beinhalten. Wir wissen aber, dass die meisten Menschen – ganz besonders in den Vereinigten Staaten – den Wunsch (noch weniger als den Akt selbst), sich selbst umzubringen, nicht als ein Recht betrachten, sondern als ein Symptom einer vermeidbaren und behandelbaren psychischen Erkrankung. Entgegen dieser Auffassung behaupte ich, dass die Möglichkeit, Suizid zu begehen, ein nicht herauszulösender Bestandteil der conditio humana ist, dass das Begehen eines Suizids als grundlegendes Menschenrecht anerkannt werden sollte und manchmal auch eine moralische Pflicht sein kann, und dass eine vermutete Suizidbereitschaft oder ein angedrohter Selbstmord niemals die Ausübung von Zwang und Gewalt gegen die (angeblich) suizidale Person rechtfertigt. Gleichzeitig halte ich die Tötung eines Patienten durch einen Arzt für ein grundlegendes moralisches Unrecht und bezeichne es als »Euthanasie«. [4]Das bedeutet allerdings nicht, dass bei einem sterbenden Patienten »den Stecker zu ziehen« in jedem Fall ein unmoralische Handlung sein muss, es bedeutet lediglich, dass es dafür nicht (notwendigerweise) einer medizinischen Qualifikation bedarf, dass es nicht als medizinischer Eingriff definiert und dass es nicht (speziell) an Ärzte delegiert werden sollte. Ich behaupte, dass unser starkes Verlangen, dass Ärzte uns die tödlichen Medikamente verabreichen mögen, unseren Wunsch verrät, der Verantwortung dafür auszuweichen, uns selbst diese Drogen zu geben, und ich behaupte, dass, solange wir uns mehr dafür interessieren, Ärzte mit dem Recht zu töten auszustatten, statt unser Recht auf Drogen zurückzufordern, unser Diskurs über Rechte und Drogen ein leeres und bedeutungsloses Geschwätz bleiben wird.

Selbstverständlich können die Menschen nicht erwarten, ihr Recht auf bestimmte Handlungen und Dinge zurückzuerhalten, wenn sie nicht willens und bereit sind, Verantwortung für die Ausführung der Handlungen und für den sorgfältigen Umgang mit diesen Dingen zu übernehmen. Da die wichtigste praktische Konsequenz unseres Verlustes der Verfügungsrechte über unseren Körper die Verweigerung des unbeschränkten Zugangs zu Drogen ist, liegt heute das wichtigste Symbol des Rechts auf unseren Körper darin, unser Recht auf Drogen wieder geltend zu machen – und zwar auf alle Drogen, nicht nur auf diese oder jene der sogenannten »Freizeitdrogen«. Hier nun stehen wir direkt dem gegenüber, was unser tatsächliches Drogenproblem ist: dass nämlich heute die meisten Amerikaner überhaupt keinen unbeschränkten Zugang zu Drogen haben wollen. Im Gegenteil, sie fürchten sich sogar vor diesem Gedanken und seinen Folgen.

III

Zusammengefasst: wir haben uns auf eine Suche voller innerer Widersprüche begeben, auf eine Suche nach einem Amerika, in dem niemand Drogen »missbraucht«, weil Ärzte wirksam den Drogengebrauch kontrollieren, und in dem jeder einen schmerzfreien und angenehmen Tod stirbt, weil mitfühlende Ärzte »sterbende« Menschen, die sich töten lassen wollen, töten. Durch die Verbindung der Furcht vor einem langen, sinnlosen und vielleicht qualvollen Tod mit der Angst vor einem freien Markt für Drogen haben wir unsere Chancen auf Erlangung pharmakologischer Selbstbestimmung zunichte gemacht, das heißt, auf Freiheit-und-Verantwortung gegenüber den Drogen, die wir nehmen, so wie wir Freiheit-und-Verantwortung besitzen gegenüber den Nahrungsmitteln, die wir verzehren, den Büchern, die wir lesen und der Religion, die wir praktizieren.

Übersetzung: Jan Groth

Das Original dieses Textes »The Fatal Temptation: Drug Control and Suicide« erschien in Thomas Szasz, The Medicalization of Everyday Life, Syracuse, NY: Syracuse University Press, 2007 [5]. Die Änderung des Titels in der Übersetzung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Autor. Wir danken Thomas Szasz für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

[1]

Will Rogers, »Slogans, Slogans Everywhere« [1925], in A Will Rogers Treasury, ed. Bryan B. and Frances N. Sterling (New York: Bonanza Books, 1982), 71.

[2]

»Banishing Books?« U.S. News & World Report, May 18, 1992, p.76.

[3]

J. Somverville, »Illinois Task Force Issues Model Right-to-Die Bill«, American Medical News, April 20, 1990, p.20.

[4]

Thomas Szasz, »The Ethics of Suicide« [1971], in The Theology of Medicine: The Political-Philosophical Foundations of Medical Ethics [6] [1977] (Syracuse: Syracuse University Press, 1988), 68–85. (dt.: Theologie der Medizin, Europaverlag, Wien/München/Zürich 1980)

[5]
siehe books.google.de/books?id=u9qWtgitwcIC

Letzte Aktualisierung am 04.09.2013
www.szasz-texte.de/texte/die-furcht-vor-selbstbestimmung-drogenverbot-und-selbstmord.html