Die Dame in der Schachtel

Thomas S. Szasz

Syracuse, N.Y. – Von mehr als 35000 Menschen in New York Stadt sagt man, daß sie ihr »Heim« im Untergrundbahnsystem, in Toreingängen, in Kartons auf der Straße haben. Letzten Monat erfror eine von ihnen, eine 61-jährige Frau namens Rebecca Smith, in ihrer behelfsmäßigen Pappendeckelhütte. Vielleicht ist in Frau Smiths Leben und Tod eine Lehre für uns alle zu sehen.

Kompetent leben zu lernen, so daß wir für uns selbst und vielleicht, wenigstens eine Zeit lang, ebenso auch für andere sorgen können, ist eine Aufgabe, die zu meistern von uns al­len erwartet wird.

Diese Aufgabe gleicht anderen wie sprechen lernen, kochen, ein Kind trösten, Tennis spielen. Manche Menschen zeichnen sich in der einen oder anderen Geschicklichkeit aus. Viele lernen genug, um im Leben weiterzukommen – aber einige von ihnen geben dann den Kampf auf. Manchen mißlingt es zu lernen wie man lebt, weil sie es nicht lernen können oder nicht lernen wollen – ein Unterschied, den wir oft nur schwer erkennen können.

Nicht jeder weiß, wie man kocht oder Tennis spielt. Warum also sollten wir dann erwarten, daß jeder wissen sollte, wie man lebt?

Wir haben diese Erwartung, weil jede gebildete Person heute »weiß«, daß Menschen, die nicht kompetent (»normal«) leben, krank sind – daß sie an der schlimmsten Art von Geisteskrankheit, die der psychiatrischen Wissenschaft bekannt ist, leiden: an »Schizophrenie«. Diese Idee ist angeblich hilf­reich – für die Wissenschaft, für die Gesellschaft, und besonders für die »Patienten«, die an dieser angeblichen Krankheit leiden. Aber das ist nicht der Fall. In Wirklichkeit ist sie tödlich. Warum? Weil Ideen Folgen haben und diese be­sondere Idee tödliche Folgen hat.

Beim Zeitunglesen erfuhren wir, daß Frau Smith während ihrer besten Lebensjahre, als ihre Tochter heranwuchs, in eine psychiatrische Anstalt mit der Diagnose Schizophrenie eingesperrt wurde.

Die erste Auswirkung der Idee von der Schizophrenie war damals für Frau Smith eine zehnjährige Einkerkerung in eine Irrenanstalt. Die zweite Auswirkung war eine unfreiwillige Elektroschock-»Behandlung«. Die dritte Auswirkung war die medizinische Verabreichung von psychiatrischen Drogen. Und die vierte Auswirkung war das Entlassenwerden aus der Anstalt.

»Psychopharmaka« und »De-Institutionalisierung« (Entlassung aus der Anstalt, T.S.), Begriffe genauso grotesk und irreführend wie »Schizophrenie«, ergänzen und bekräftigen nun das Bild von dieser »Krankheit« und ihrer »Behandlung«.

Die traurige Wahrheit ist, daß Frau Smith ein Mensch war, der nicht auf sich achtete. Das weckt unser Mitgefühl. Was es tragisch macht, ist unsere Weigerung, diese Tatsache ein­fach als das zu nehmen, was sie ist – stattdessen legen wir die Schuld für ihr Schicksal in eine mysteriöse, in der Tat nicht bestehende Krankheit.

Wegen dieser Verlagerung und Mystifikation haben wir zu­nächst akzeptiert (und akzeptieren es immer noch), daß die unfreiwillige Einsperrung in eine Anstalt, während dieser »Schizophrene« noch mehr desozialisiert werden als sie waren, eine Form von Therapie ist.

Aus diesem Grund nehmen wir auch hin, daß es Therapie ist, »Schizophrene« aus der Irrenanstalt, nachdem sie in ihr eine Heimat gefunden haben, wieder hinauszustoßen. Obwohl die institutionelle Psychiatrie durch und durch mit medizinischem Schwindel und Zwangsmaßnahmen durchsetzt ist, sind wir immer noch überrascht, daß die sogenannten Nutz­nießer dieser »Hilfe« diese nicht wollen. Nachdem Frau Smith gestorben war, kam ihre Tochter nach New York City, um die Leiche ihrer Mutter zu fordern. Als sie die Beerdigungsvorbereitungen traf – so stand es in der Zeitung – zeigte man ihr einen Sarg, der ein Druckschloß hatte. Sie verlangte einen anderen. »So kann ich meine Mutter nicht einsperren«, sagte sie, »das brächte ich nicht fertig«.

Aber Frau Smith war tot. Jetzt konnte man sie nicht mehr einsperren. Als Frau Smith noch am Leben war, hatte je­mand sie eingesperrt. Diese Widersinnigkeit zeigt unsere grenzenlose Unbekümmertheit gegenüber geistiger Krankheit, persönlicher Freiheit und Tod. Gewiß, hätte man Frau Smith zu jenem Zeitpunkt nicht ein­gesperrt, wäre sie vielleicht noch eher gestorben. Und wäre sie überhaupt nicht eingesperrt und gegen ihren Willen »behandelt« worden, wäre sie nicht die Person geworden, die sie wurde.

Das sind Dinge, die wir niemals erfahren werden. Was wir – so glaube ich – wissen, ist, daß Einsamkeit und Entwurzelung und die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, ein eigenständiges Leben zu führen, nicht die Symptome einer Krankheit (wie Krebs oder Diabetes) sind.

Natürlich wird dieses Wissen, vorausgesetzt es ist wahr, nicht die Probleme lösen, die solche Menschen sich selbst und an­deren stellen. Es wird uns jedoch helfen, die Probleme nicht noch schlimmer zu machen als sie sind. Aber es ist ein charakteristischer Zug der Geschichte des Heilens, daß den Menschen eine Behandlung, die tötet, lieber ist, als gar keine. Behandlungen, die sich gegen die nichtexistierende Krankheit Schizophrenie richten, sind überdies doppelt gefährlich: Sie zerstören nicht nur das Leben der »Schizophrenen«, sondern auch die Fähigkeit der Nicht-»Schizophrenen«, klar zu sehen, was den »Patienten« schadet.

Im Original erschienen am 16.2.1982 in der New York Times unter dem Titel: »The Lady in the Box«. Die Übersetzung von Tina Stöckle wurde in Irren-Offensive Nr. 2. [1] veröffentlicht.

[1]
siehe www.antipsychiatrie.de/io_02/

Letzte Aktualisierung am 24.03.2013
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